BAG, Urteil vom 26.4.2023, 4 AZR 275/20 (sowie parallele Entscheidungen: 4 AZR 249/21 und 4 AZR 36/22

„Arbeitsvorgänge“ i.S.d. § 22 BAT und § 12 TV -L sind keine Einzeltätigkeiten, sondern die Arbeitsleistungen, die zu einem bei natürlicher Betrachtung abgrenzbaren Arbeitsergebnis führen. Insoweit können die Tätigkeiten einer Beschäftigten in der Serviceeinheit eines Amtsgerichtes einen einzigen Arbeitsvorgang bilden. Dies insbesondere dann, wenn die Tätigkeiten dem Arbeitsergebnis der Betreuung der Aktenvorgänge in der Serviceeinheit vom Eingang bis zum Abschluss des Verfahrens dienten; denn bei natürlicher Betrachtung sind die einzelnen Aufgaben lediglich notwendige Zwischenschritte auf dem Weg zum endgültigen Abschluss des Verfahrens, die für sich genommen nicht zu einem eigenen Arbeitsergebnis führen.

Der Fall:

Die Klägerin ist seit dem 1. August 1988 bei dem beklagten Land beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis fand ursprünglich der BAT und anschließend der TV-L Anwendung. Seit dem 1. Oktober 2002 ist sie am Amtsgericht H als Geschäftsstellenverwalterin in einer Serviceeinheit für Zivilprozesssachen beschäftigt. Gemäß der zugrunde liegenden Tätigkeitsdarstellung hatte sie alle Befugnisse des Geschäftsstellenverwalters des mittleren Justizdienstes einschließlich Vorschusskostenprüfung und Anforderung, ausgenommen Schlusskostenberechnung; sie hatte Tätigkeit in einer Service-Einheit auszuüben (Büro- und Schreibtätigkeiten, soweit nicht schwierig) mit einem zeitlichen Anteil von 58,22% und ca. 36,78 % schwierige Tätigkeiten wie z.B. Vorprüfung der Zuständigkeit, Aufstellung von Vorschusskostenrechnungen für die Prozessgebühren in Zivilsachen, PN 2 e, Erteilung von Rechtskraftzeugnissen, Erteilung von Vollstreckungsklauseln, Aufgaben bei der Bewilligung von PKH mit Zahlungsbestimmung, Unterschriftsreife Vorbereitung von Anerkenntnis- und Versäumnisurteilen etc. Mit 5% war Inhaltsprotokollführung in Strafsachen angegeben.

Das beklagte Land leitete die Klägerin zum 1. November 2006 aus der Vergütungsgruppe Vc der Anlage 1a zum BAT in die Entgeltgruppe 8 TV-L über und vergütet sie seither entsprechend.

Die Klägerin vertritt dagegen die Auffassung, sie habe einen Anspruch auf eine Vergütung nach EG 9 bzw. ab Januar 2019 EG 9a TV-L. Ihre Tätigkeit habe bereits bei Überleitung in den TV-L die tariflichen Anforderungen der VG Vb BAT erfüllt. Die Tätigkeit einer Geschäftsstellenverwalterin in einer Serviceeinheit bilde einen Arbeitsvorgang, innerhalb dessen sie zu 36,78 vH schwierige Tätigkeiten ausübe.

Das beklagte Land brachte dagegen vor, die Tarifvertragsparteien hätten durch die Festlegung einzelner Tätigkeiten als „schwierig“ in den Protokollnotizen zu den besonderen Tätigkeitsmerkmalen für Angestellte bei Gerichten und Staatsanwaltschaften vorgegeben, dass es sich bei schwierigen und nicht schwierigen Tätigkeiten um unterschiedliche Arbeitsvorgänge im Tarifsinn handeln solle. Zudem sei der Klägerin die Tätigkeit der Schriftgutverwaltung und Aktenführung, die 58,22 vH ihrer Gesamtarbeitszeit beanspruche, gesondert als abgrenzbarer Arbeitsvorgang übertragen worden. Insoweit habe die Klägerin nicht zu mindestens 50 vH schwierige Tätigkeiten auszuüben.

Die Entscheidung:

Die Klage hatte Erfolg.

Das Gericht führte aus, dass gemäß § 22 Abs. 2 Satz 1 BAT (entspricht § 12 TV-L) die Klägerin in der Vergütungsgruppe eingruppiert sei, deren Tätigkeitsmerkmalen die gesamte von ihr nicht nur vorübergehend auszuübende Tätigkeit entspricht. Es müssten hierzu zeitlich mindestens zur Hälfte Arbeitsvorgänge anfallen, die für sich genommen die Anforderungen eines Tätigkeitsmerkmals oder mehrerer Tätigkeitsmerkmale dieser Vergütungsgruppe erfüllen.

Nach Auffassung des Gerichts bildete die Tätigkeit der Klägerin – mit Ausnahme der Fertigung von Inhaltsprotokollen in Strafsachen – einen einheitlichen, 95 vH der Gesamtarbeitszeit erfassenden, Arbeitsvorgang aus.

Es führte hierzu aus, dass nach § 22 Abs. 2 BAT Bezugspunkt der tariflichen Bewertung der Arbeitsvorgang sei. Für die Beurteilung, ob eine oder mehrere Einzeltätigkeiten zu einem Arbeitsergebnis führten, seien eine natürliche Betrachtungsweise und die durch den Arbeitgeber vorgenommene Arbeitsorganisation ausschlaggebend. Dabei könne die gesamte vertraglich geschuldete Tätigkeit einen einzigen Arbeitsvorgang ausmachen. Einzeltätigkeiten können dann nicht zusammengefasst werden, wenn die verschiedenen Arbeitsschritte von vornherein auseinandergehalten und organisatorisch voneinander getrennt seien. Hierfür reiche jedoch die theoretische Möglichkeit nicht aus, einzelne Arbeitsschritte oder Einzelaufgaben verwaltungstechnisch isoliert auf andere Angestellte zu übertragen. Bei der Zuordnung zu einem Arbeitsvorgang können wiederkehrende und gleichartige Tätigkeiten zusammengefasst werden.

Die tarifliche Wertigkeit der verschiedenen Einzeltätigkeiten oder Arbeitsschritte bleibe dabei zunächst außer Betracht. Erst nachdem die Bestimmung des Arbeitsvorgangs erfolgt ist, sei dieser anhand des in Anspruch genommenen Tätigkeitsmerkmals zu bewerten (BAG, Urteil v. 9.9.2020 – 4 AZR 195/20).

Entgegen der Auffassung des beklagten Landes stehe dieser Auslegung weder die Systematik der tariflichen Regelungen noch die Tarifgeschichte entgegen. Diese Auslegung führe auch nicht dazu, dass der Klammerzusatz zu Nr. 1 der Protokollnotiz zu § 22 Abs. 2 BAT „praktisch vollends leer“ laufe; denn bei natürlicher Betrachtungsweise sei – in Abgrenzung zu einer wissenschaftlichen, juristischen oder persönlichen Betrachtung – darauf abzustellen, ob ein objektiver Außenstehender die einzelnen Tätigkeiten einem oder mehreren Arbeitsergebnissen zuordnen würde. Maßgebend sei daher, wie die Tätigkeit allgemein beschrieben und verstanden werde. Und das sei abhängig von der durch den Arbeitgeber vorgenommenen Arbeitsorganisation. Je universeller eine Aufgabenzuweisung erfolge, desto wahrscheinlicher sei es, dass bei natürlicher Betrachtungsweise ein großer Arbeitsvorgang vorliege. Dementsprechend hänge es von der Organisation des Arbeitgebers ab, in welchem Umfang Tätigkeiten wie die in dem Klammerzusatz genannten zu einem eigenständigen Arbeitsergebnis führten.

Des Weiteren führte das BAG aus, dass auch die teilweise geforderte Berücksichtigung der Tarifhistorie im Hinblick auf die Zeit vor Einführung des Arbeitsvorgangs als Bewertungskriterium nicht zu einem anderen Verständnis der tariflichen Regelungen führe; denn soweit in Entscheidungen vor 1975 der Begriff „Arbeitsvorgang“ verwendet wurde, lasse dies keinen Rückschluss auf dessen Verständnis in § 22 BAT oder § 12 TV-L zu. Eine Definition des Arbeitsvorgangs, auf die die Tarifvertragsparteien bei Vereinbarung der neuen Eingruppierungsregelungen hätten zurückgreifen können, sei dabei nicht erfolgt (vgl. z.B. die Verwendung des Begriffs ohne jegliche Erläuterung in BAG, Urteil v. 23.5.1973 – 4 AZR 349/72 ; v. 27.3.1968 – 4 AZR 256/67 ; v. 14.2.1968 – 4 AZR 148/67 ). Soweit in früheren Entscheidungen Tätigkeiten einem „Arbeitsvorgang“ zugeordnet wurden, lag diesem Verständnis weder § 22 BAT noch § 12 TV-L zugrunde; denn vor Einführung der neuen Eingruppierungsregelungen sei, so das BAG weiter, der Begriff als Synonym für die einzelnen Aufgaben eines Beschäftigten verstanden worden. Der Senat sei zunächst davon ausgegangen, der Arbeitsvorgang sei kleiner als das Aufgabengebiet (BAG, Urteil v. 9.10.1957 – 4 AZR 96/55) und hatte dann beispielhaft Arbeitsvorgänge aufgeführt als Darstellung politischer Grenzen, Ortschaften, Flussläufe und Bodenbeschaffenheit bei Erstellung einer topographischen Karte (BAG, Urteil v. 6.12.1961 – 4 AZR 285/60) oder als Festsetzung der Beschäftigungszeit, Dienstzeit, Berufszeit und Grundvergütung bei der selbstständigen Errechnung von Vergütungen (BAG, Urteil v. 27.10.1970 – 4 AZR 487/69) oder er hat den Begriff des „einzelnen Arbeitsvorgangs“ gleichbedeutend mit einer „Einzelaufgabe“ verwendet  (BAG, Urteil v. 10.12.1969- 4 AZR 87/69). „Arbeitsvorgänge“ i.S.d. § 22 BAT und § 12 TV -L seien jedoch nicht Einzeltätigkeiten, sondern die Arbeitsleistungen, die zu einem bei natürlicher Betrachtung abgrenzbaren Arbeitsergebnis führen.

In Anwendung der vorstehenden Grundsätze bildeten nach Auffassung des Gerichts – mit Ausnahme der Erstellung von Inhaltsprotokollen in Strafsachen – sämtliche der Klägerin übertragenen Tätigkeiten einen, 95 vH der Arbeitszeit erfassenden, Arbeitsvorgang; denn die Tätigkeiten dienten dem Arbeitsergebnis der Betreuung der Aktenvorgänge in der Serviceeinheit vom Eingang bis zum Abschluss des Verfahrens. Bei natürlicher Betrachtung seien die einzelnen Aufgaben der Klägerin lediglich notwendige Zwischenschritte auf dem Weg zum endgültigen Abschluss des Verfahrens, die für sich genommen nicht zu einem eigenen Arbeitsergebnis führen.

Entgegen der Auffassung des beklagten Landes führen nach Auffassung des BAG die Aufgaben auch nicht deshalb zu verschiedenen Arbeitsergebnissen, weil sie nach der durch das beklagte Land vorgenommenen Arbeitsorganisation organisatorisch voneinander getrennt zugewiesen worden wären. Die „ganzheitliche“ Übertragung der Tätigkeiten schließe zwar eine solche Trennung nicht von vornherein aus, da diese lediglich das Konzept der Serviceeinheit beschreibe und keinen zwingenden Schluss auf die tatsächliche Arbeitsorganisation zulasse. Eine organisatorische Trennung ergebe sich zudem weder aus der GStO NRW noch aus der AktO NRW oder den rechtlichen und tatsächlichen Umständen der Tätigkeit; denn der AktO NRW enthalte beispielsweise generelle Vorgaben zur Aktenführung und -verwaltung, bestimme jedoch aber nicht, durch wen diese in welcher Art und Weise vorzunehmen ist. Auch soweit für die der Klägerin übertragenen Aufgaben unterschiedliche Rechtsgrundlagen (z.B. § 3 KostVfG, §§ 114 ff., 127, 168, 706, 724 ZPO)bestehen, habe diese gesetzliche Festlegung der Zuständigkeit einzelner Organe der Rechtspflege keinen Einfluss auf die Arbeitsorganisation; denn die Verschriften lassen keinen Rückschluss darauf zu, welcher Person konkret welche Aufgaben übertragen werden, und ob dies zusammen mit anderen oder getrennt von diesen erfolge.

Bei der innerhalb des 95 vH der Arbeitszeit ausmachenden Arbeitsvorgangs auszuübenden Tätigkeit der Klägerin handelte es sich um die einer Angestellten als Geschäftsstellenverwalterin bei Gericht i.S.d. VG  Vc Fallgruppe 1/Vb Fallgruppe 1 BAT, die sich dadurch aus der VG VIb Fallgruppe 1 BAT heraushebt, dass sie schwierig ist.

Das Gericht führte hierzu aus, dass im Rahmen des Arbeitsvorgangs „Betreuung der Akten in einer Serviceeinheit“ die schwierige Tätigkeiten in rechtserheblichem Ausmaß anfielen; denn ohne diese könne ein sinnvoll verwertbares Arbeitsergebnis im Hinblick auf den Zuschnitt der auszuübenden Tätigkeiten nicht erzielt werden, da ansonsten die Aktenbearbeitung unvollständig wäre. Bei der Bewertung eines Arbeitsvorgangs sei es zur Erfüllung einer qualifizierenden tariflichen Anforderung, hier der „schwierigen“ Tätigkeit, ausreichend, wenn diese innerhalb des Arbeitsvorgangs in rechtlich erheblichem Ausmaß vorliege. Nicht erforderlich ist, dass innerhalb eines Arbeitsvorgangs schwierige Tätigkeiten ihrerseits in dem von § 22 Abs. 2 Satz 2, Satz 5 BAT bestimmten Maß anfallen.

Die Klägerin war somit zunächst ab dem 1. Oktober 2002 in die VG  Vc Fallgruppe 1 BAT sowie nach Ablauf der Bewährungszeit ab dem 1. Oktober 2005 in die VG Vb Fallgruppe 1 BAT eingruppiert und wurde zum 1. November 2006 in die „kleine“ Entgeltgruppe 9 TV-L übergeleitet (jetzt die EG 9a TV-L).

WSW-Kommentar:

Mit Blick auf die jüngere Rechtsprechung des BAG zur Bildung des Arbeitsvorgangs ist auch diese Entscheidung konsequent und ebenso wie die bisherigen begründet. Interessant ist der Ausflug in die Tarifhistorie, die für den Anwender jedoch wenig hilfreich ist.

Was bedeutet die Entscheidung für die Praxis? Einerseits gilt es die Bildung des Arbeitsvorganges bei allen Stellen zu prüfen. Vor allem betrifft dies die Entgeltgruppe mit einem Fünftel- oder Drittelmerkmal wie die EG 7 und 8 der allgemeinen Tätigkeitsmerkmale.

Erwähnenswert ist aber auch die praktische Umsetzung: Im vorliegenden Fall hat eine Korrektur nicht innerhalb der Ausschlussfrist des § 37 TVöD/TV-L zu erfolgen, da die Eingruppierung als solche nicht unter die Ausschlussfrist fällt. Der Arbeitgeber musste also rückwirkend ab 2002 die Korrektur vornehmen, mit nochmaliger Überleitung zum 1.11.2006. Lediglich der Zahlungsanspruch fällt unter die tarifliche Ausschlussfrist.