BAG, Urteil vom 31.1.2023, 9 AZR 107/20

Leitsatz (amtlich)

Die bei einer mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG bei Langzeiterkrankungen geltende 15-monatige Verfallfrist kann ausnahmsweise unabhängig von der Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten beginnen, wenn die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers so früh im Urlaubsjahr eintritt, dass es dem Arbeitgeber tatsächlich nicht möglich war, zuvor seinen Obliegenheiten nachzukommen.

Der Fall:

Der Kläger war seit dem 1. November 1989 bei der Beklagten beschäftigt. Der TVöD-V fand auf das Arbeitsverhältnis Anwendung. Seit dem 18. Januar 2016 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses, welches durch Aufhebungsvertrag mit Ablauf des 28. Februar 2019 endete, war der Kläger durchgehend arbeitsunfähig erkrankt. Der Kläger klagte nun auf Abgeltung von 30 Arbeitstagen Urlaub aus dem Jahr 2016 zu 183,49 Euro brutto pro Urlaubstag. Er begründete dies damit, dass sein Urlaubsanspruch aus dem Jahr 2016 trotz der durchgehenden krankheitsbedingten Fehlzeit nicht nach 15 Monaten mit Ablauf des 31. März 2018 erloschen sei, weil die Beklagte ihn nicht durch Erfüllung ihrer Mitwirkungsobliegenheiten in die Lage versetzt habe, den Urlaub tatsächlich wahrzunehmen.

Die Entscheidung:

Während die Vorinstanzen die Klage abgewiesen hatten, hatte sie vor dem BAG teilweise Erfolg. Allerdings hat es die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückverwiesen.

Im Einzelnen: Das BAG führte zunächst aus, dass bei richtlinienkonformer Auslegung des § 7 Abs. 1 und 3 BUrlG der Urlaub nach Ablauf von 15 Monaten erlösche, wenn Beschäftigte seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres arbeitsunfähig gewesen sind. In diesem Fall verfalle der Urlaubsanspruch unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen sei oder nicht. Demgegenüber könne ein Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub aus einem Bezugszeitraum, in dessen Verlauf der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat, bevor er aufgrund einer seitdem fortbestehenden Krankheit arbeitsunfähig geworden sei, bei einer richtlinienkonformen Auslegung des § 7 Abs. 1 und Abs. 3 BUrlG grundsätzlich nur dann nach Ablauf eines Übertragungszeitraums von 15 Monaten erlöschen, wenn der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten rechtzeitig nachgekommen sei.

Der Arbeitgeber habe jedoch das Risiko, dass der Urlaub wegen einer im Urlaubsjahr eintretenden Krankheit nicht erfüllt werden könne, nur zu tragen, soweit er im Urlaubsjahr tatsächlich die Möglichkeit gehabt hatte, seinen Obliegenheiten auch nachzukommen.

Trete dagegen die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers so früh im Urlaubsjahr ein, dass es dem Arbeitgeber tatsächlich nicht möglich gewesen sei, den Arbeitnehmer zur Inanspruchnahme des Urlaubs zu veranlassen, so dass selbst bei ordnungsgemäßer Aufklärung durch den Arbeitgeber der Beschäftigte den Urlaub nicht vollständig habe nehmen können, erlösche der Urlaubsanspruch bei fortdauernder Erkrankung unabhängig von der Mitwirkung des Arbeitgebers mit Ablauf eines Übertragungszeitraums 15 Monate nach Ende des Urlaubsjahres.

Das Risiko, wegen einer im Urlaubsjahr eintretenden Krankheit Urlaubsansprüche nicht erfüllen zu können, sei somit dem Arbeitgeber erst dann zugewiesen, wenn er seine Obliegenheiten tatsächlich erfüllen konnte. Bis dahin trage der Arbeitnehmer das Verfallrisiko.

Für die Frage, ob der Arbeitgeber die Beschäftigten rechtzeitig aufgefordert habe, ihren Urlaub zu nehmen, und ihnen klar mitgeteilt habe, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfalle, wenn er nicht beantragt werde, sei auf den Zugang der Erklärung bei den Beschäftigten abzustellen. Die Aufforderung und Hinweis müssten zwar nicht sofort nach der Entstehung des Urlaubsanspruchs erfolgen, sondern entsprechend der Legaldefinition nach § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB unverzüglich, d. h. ohne schuldhaftes Zögern des Arbeitgebers.

Die Zeitspanne, die dem Arbeitgeber zur Vorbereitung und Durchführung der Belehrung einzuräumen sei, richte sich dabei nach den Umständen des Einzelfalls.

Da nach Auffassung des BAG die Berechnung des Urlaubsanspruchs und die Formulierung der Belehrung grundsätzlich keine besonderen Schwierigkeiten bereite, sei unter normalen Umständen – wenn keine Besonderheiten wie z. B. Betriebsferien zu Jahresbeginn – vorliegen, eine Zeitspanne von einer (Urlaubs-)Woche, d. h. in Anlehnung an § 3 BUrlG sechs Werktage nach Entstehung des Urlaubsanspruches, was nach § 1 BUrlG zu Beginn des Kalenderjahres ist, d.h. zum 1. Januar, ausreichend.

Im Hinblick auf die Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers gelten, so das Gericht weiter, die dargestellten Grundsätze nicht nur für den gesetzlichen Mindesturlaub, sondern auch für den tariflichen Mehrurlaub; denn die Tarifvertragsparteien des TVöD hätten in dieser Hinsicht den tariflichen Mehrurlaub nicht abweichend von den gesetzlichen Vorgaben geregelt.

Im vorliegenden Fall erachtete das BAG die Klage als unbegründet, soweit der Kläger die Abgeltung von 25 Arbeitstagen Urlaub verlangte; denn aufgrund der am 18. Januar 2016 eingetretenen Arbeitsunfähigkeit des Klägers hätten zwischen Montag, dem 4. Januar 2016, und Freitag, dem 15. Januar 2016, nur zehn Arbeitstage gelegen, an denen der Urlaubsanspruch hätte erfüllt werden können. Zudem habe die Beklagte ihre Mitwirkungsobliegenheiten nicht vor dem 8. Januar 2016 erfüllen müssen. Erst nach Ablauf der Frist sei das Risiko, dass Urlaubsansprüche wegen einer Langzeiterkrankung verfielen, auf die Beklagte übergegangen.

Da das BAG mangels konkreter Feststellungen des LAG nicht darüber entscheiden konnte, ob auch die Urlaubsansprüche erloschen waren, die in den fünf Arbeitstagen zwischen dem 8. Januar 2016 und dem Krankheitsbeginn am 18. Januar 2016, d. h. im Zeitraum vom 11. bis zum 15. Januar 2016, hätten erfüllt werden können, wurde die Sache an das LAG zurückverwiesen.

WSW-Kommentar:

Das Urlaubslabyrinth – die Rechtsprechung des EuGH und des BAG hat eine weitere Wendung erhalten.

Es geht zum wiederholten Male um die Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers, also die Hinweispflicht. Diese ist im Jahr 2018 durch den EuGH entstanden und wurde sodann durch mehrere Entscheidungen des BAG, beginnend im Jahr 2019 verfeinert.

Der Hinweis muss konkret, individualisiert und in völliger Transparenz erfolgen.

Nun ist auch klar, wann der Hinweis zu erfolgen hat: in der ersten Woche des Kalenderjahres. Da klingt es schon fast wie Hohn, wenn das Bundesarbeitsgericht ausführt, dass eine Woche ausreichend ist, da der Hinweis keine besonderen Schwierigkeiten bereite.

Wenn man die Entscheidung aber richtig einordnet, wird klar, welche Risiken bei einem späteren Hinweis bestehen können: Im Grunde geht es primär um den langzeitkranken Arbeitnehmer, dessen Arbeitsunfähigkeit im Laufe des Jahres beginnt. Dann verfällt der Urlaub nicht nach Ablauf von 15 Monaten nach Schluss des Jahres bei fortbestehender Krankheit, wenn der Arbeitgeber nicht ordnungsgemäß hingewiesen hat.

Erfolgt der Hinweis also nicht direkt in der ersten Woche des neuen Jahres, besteht „lediglich“ die Gefahr des fortbestehenden Urlaubs bei dem Beschäftigten, der bis zum Hinweis dauererkrankt.